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Verdünnung: Die Versöhnung mit der Untreue
 

Thomas Primas

 

Herbst 1995. Die Bäume legen die bunten Kleider ihrer Lebensblüte ab, stehen nackt da. Im Herbst steigt eine Ahnung des Unterganges auf, die auf ein Geheimnis der Natur hinweist: Werden und Vergehen. Doch im Herbst vergeht nicht nur die unmittelbare Kraft des saftigen Blühens; immer wird im Vergehen auch etwas. Die Ahnung des Unterganges lässt eine Reife wachsen, die im Zurücklassen des Alten Raum gewinnt. Doch ist es eine Täuschung, dass das Alte einfachhin zurückgelassen wird. Es verbirgt sich in das Innere dieser Nacktheit, um in dieser Verborgenheit Kraft zu schöpfen für die Auferstehung im nächsten Frühling. Denn ist es nicht so, dass alle Kraft aus dieser Verborgenheit, aus diesem Urgrund des Seins geschöpft wird?

Im Winter scheint alles Werden zu ruhen, sich ins Schweigen zurückgezogen zu haben. Der Herbst bereitet auf diese Ruhe vor, schafft die nötige Reife für eine Begegnung mit dem Verborgenen. Diese Begegnung lässt auch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenkommen, so dass der Fluss der Zeit verlangsamt wird, fast aufgehoben. Die Ahnung des Unterganges ist immer auch eine Nähe zur Ewigkeit. Von dort kommt Heilung zur Auferstehung von der Krankheit zum Tode.

Die Homöopathie mag einen erinnern an den Herbst, an die Ahnung des Unterganges. Das unmittelbare Blühen der Natur fällt ab, zieht sich in das Innere der Nacktheit zurück, die dann äusserlich zurückbleibt. Doch das Blühen ist nicht einfachhin vergangen; es hat sich in die Nacktheit des Alkohols verborgen. Solange verdünnt, bis es verschwunden ist, ist es doch nicht verschwunden. Es ist in diesem Abstreifen des körperlichen Kleides reif geworden für die Nähe zur Ewigkeit, um von dort her Heilung zu schenken für das Leben hier.

Es ist also Herbst 1995, und Daniel Ambühl fragt mich, ob man von diesem Puppenharn, das einer seiner Schmetterlinge ihm in die Forscherhände gespielt hatte, ein homöopathisches Mittel herstellen könne. Nun, es ist natürlich möglich; wir sind uns aber einig, dass uns dies nicht als Mediziner interessiert, sondern wie kleine Kinder auf dem Schoss des Grossvaters, die gespannt auf die Geschichte hören, die er uns in seiner Ruhe und Nähe zur Ewigkeit erzählt. Er erzählte, und ich möchte weitererzählen.

Der Puppenharn, das Mekonium, die Ausscheidung des gewordenen Schmetterlings kurz vor seinem ersten Flug, ist die geballte Ungeduld des Herzens. Im Mekonium werden alle Gifte, alle Abfallprodukte abgestossen, die sich während der langwierigen Verpuppungszeit angesammelt haben. Was ist aber ein Gift, und was ist im Falle unseres Schmetterlings das Gift, das es zu verabschieden gilt?

Jeder Stoff der Welt ist in einem gewissen Masse für ein bestimmtes Leben Gift. Was für das eine Lebewesen als tödliches Gift wirkt, schmeckt dem anderen vorzüglich; was für eine Lebensphase unbekömmlich, ungeeignet und schliesslich vergiftend ist, dient in einer anderen Phase ohne weitere Verdauungsstörungen als Nahrung, als Triebstoff. Es ist das Mass, das entscheidend ist. Es ist das Mass, das einen Stoff als giftig - ungeeignet - oder nahrhaft - geeignet - ausweist. Denn in jeder Phase des Lebens, in jedem Lebewesen ist alles, die ganze Welt anwesend, doch in einer ganz bestimmten Hierarchie der Verborgenheit, in einem ganz bestimmten Masse der Ordnung. Dieses Mass gilt es anzunehmen. Dann ist der Zugang zur Nahrung, nach der man begehrt, nach der man sich sehnt, frei und leicht.

Doch der Mensch und mit ihm die Welt ist um der Hauptsache willen geschaffen: der Liebe. Dorthin, wo geschenkte Liebe möglich ist, ist der Mensch gestellt, und dort lauert die Schlange mit ihrem Gift. Es ist stets das gleiche Gift, stets das Gift der Schlange. Der Mensch ist auf dem Weg, und dort lauert die Schlange. Die Schlange ist vielleicht Ausdruck der Angst Gottes: "Wird es gelingen?" "Wird er mich lieben?" "Wird er meine Liebe spüren?" Doch das Gift der Schlange - wenn es in empfindbaren, homöopathischen Mengen eingenommen wird - ist auch das grösste, letzte Heil-Mittel. Es versöhnt den Menschen mit Gottes grösster Sorge: "Wird er lieben?"

Der zu werdende Schmetterling findet sich in seiner Verpuppungsphase in einer äusserst dramatischen Situation. Das würde man ihm nicht ansehen, wie er da so rumhängt. Doch in seinem Innern bläst der Wind und wühlt das Meer auf. Unergründliche Tiefen werden bewegt; der Sturm kippt die letzten Schiffe um, die wie letzte Inseln der Begreiflichkeit als Worte und Geborgenheiten sich in die weite Unbegreiflichkeit hinauswagten. Im vom Sturm zerfetzten Nebel sieht er noch ein Schiff, ein letztes Zeichen des Vertrauens und der Treue. Doch vielleicht war es nur ein Traum, Wunschtraum seiner Sehnsucht nach Trost, ein Gespenst seiner Hoffnung.

Das Drama der Verpuppung äussert sich sich in einer frustrierenden Stagnation. Nichts geht mehr. Der Wille und die Sehnsucht, dass etwas gehe, sind noch da; er spürt doch, dass sich etwas tut, dass sich etwas verwandelt, entwickelt. Er kann es aber nicht sehen. Nichts zeigt sich. Die Mutter spürt, dass sich das Kind in ihrem Innern entwickelt und wächst. Sie wünschte sich, dass Aufblühen des Kindes zu sehen, es anzufassen, zu begreifen. Doch es geht nicht. Es ist noch verborgen und wird sich zu einem bestimmten Zeitpunkt zeigen, geboren werden, ausschlüpfen. Man weiss es, und doch dauert es immer ein bisschen länger, als das eigene Vertrauen, die eigene Geduld hinreicht. Die Geduld und das Vertrauen werden strapaziert, dehnen sich und sehnen sich unermesslich. "Wieviel Geduld wird denn noch verlangt von mir? Ich kann nicht mehr. Ich schmeisse alles hin, gebe auf, werde endlich aktiv, nehme die Sache selber in die Hand."

Eine masslose Ungeduld durchwühlt das Herz. Die Raupe ist aber immer noch in ihrer Verpuppung, hängt an ihrem Blatt, kann nichts tun. Diese Ungeduld ist gänzlich ungeeignet für diesen Zustand. Sie ist Gift. Dieses Gift muss ausgeschieden werden. Doch in dieser Situation des völligen Stagnation, der völligen äusseren Bewegunglosigkeit ist sogar dieses "Ausscheiden" ein Tun der Unmöglichkeit. Nichts geht. Man kann gegen die Ungeduld nichts tun. Sie gehört zu dieser Phase. Sie ist äusserster, unmässiger, giftiger Ausdruck der Sehnsucht - der Sehnsucht nämlich, Schmetterling zu werden, frei zu sein von der Erdbindung, zu fliegen, mit der Taube zu sein, erlöst zu sein. Die Ungeduld ist nicht auszuscheiden während dieser Phase. Man kann sie nur ertragen, so gut es geht.

Diese Ungeduld kennen wir aus der biblischen Geschichte vom Auszug aus Aegypten. Aegypten ist die Gefangenschaft in der Form, in der Mumie, in der Puppe also auch. Das Versprechen von Gott lautet, dass nach 400 Jahren - einer abgeschlossenen Phase - die Befreiung, die Erlösung aus dieser Gefangenschaft komme. Die Israeliten sind aber ungeduldig. Sie sehnen sich nach dem Gelobten Land. Und als die 400 Jahre um sind, kommen junge, dynamische, ungeduldige Männer zu Mose, ihrem Führer, und verlangen von ihm, nun Gottes Versprechen zu erfüllen und sie aus Aegypten ins Gelobte Land zu führen. Moses aber bittet sie um noch ein wenig Geduld. Die Zeit sei noch nicht ganz reif. Die jungen Männer aber ziehen trotzdem aus Aegypten aus. Sie haben keine Geduld mehr, um zu warten. Und ohne die Führung von Mose gehen sie im Kampf gegen ihre Feinde chancenlos unter. Sie werden vollständig vernichtet. Kurz darauf zieht Mose mit Israel aus der Gefangenschaft aus; es gelingt.

In der ganzen Zeit der Gefangenschaft hat sich eine masslose - verständliche, aus Sehnsucht geborene - Ungeduld angesammelt. Jetzt, kurz vor der Befreiung, kurz vor dem Übergang in eine neue Phase, muss diese Ungeduld ausgeschieden werden; die jungen, kämpferischen, ungeduldigen Männer müssen vernichtet werden. Sie sind die Ungeduld, sie sind das Aufbegehren gegen Gott. Ungeduld ist stets Aufbegehren gegen Gott, gegen das Schicksal: Vertrauenslosigkeit, Untreue gegen sein Versprechen. In Ungeduld, aus Ungeduld wird man böse auf das Schicksal, auf Gott, wütend, anklagend, dass das Versprechen gebrochen wurde. Doch es ist nur die eigene Untreue, das eigene fehlende Vertrauen, von dem man immer ein bisschen zu wenig zu haben scheint, als man gerade bräuchte. Und diese eigene Untreue muss ausgeschieden werden, denn sie gehört zu der Phase, die nun vorüber ist. Das Mekonium ist die Versöhnung mit der Untreue.

Diese ungeduldige Untreue gehört zu Israel, gehört zur Seele des Menschen, immer wieder. Sie ist das Gift der Schlange, Ausdruck der Angst Gottes, ob der Mensch lieben werde. Es macht uns krank, dieses Gift der Ungeduld. Doch versuchen wir sie zu verstehen: Da steht einer am Bahnhof und sollte zu einem nahen Zeitpunkt am Flughafen sein. Der Zug kommt und kommt nicht. Er muss noch umsteigen, wird gar noch den zweiten Zug verpassen. Ungeduldig läuft er auf dem Bahnsteig hin und her - fast wie die Raupen vor ihrer Verpuppung. Doch er kann nichts tun. Er kann den Zug ja nicht herzaubern. Er ist absolut hilflos. Er muss warten. Er wird unruhig, möchte am liebsten alle Säulen des Bahnhofes treten, alle Fahrpläne samt derer, die sie ausgeheckt haben, verfluchen, schliesslich auch den, der den Fahrplan der Welt erschaffen hat, zum Teufel schicken - und weiss doch, dass alles nichts nützt. Am liebsten würde er alles hinschmeissen und in alle Ewigkeiten in der Nichtexistenz grollen und schmollen. Doch auch das wird ihm nicht gegönnt. Er will ja sein Flugzeug erwischen. Seine Ungeduld ist masslos und seine Verzweiflung auch. Nun gut, da kommt der Kokon - Verzeihung, der Zug, und er steigt ein. Der Zug schleppt sich dahin, muss auf einen entgegenkommenden Zug warten, fährt viel zu langsam, kommt schliesslich im Umsteigebahnhof an. Der Anschlusszug ist verpasst, wieder warten; die Wut, die Verzweiflung, die Ungeduld, die Verfluchungen steigern sich zur griechischen Tragödie. Agonie befällt ihn. Alles ist gegen ihn: das Schicksal, der Zug, Gott. Der Anschlusszug kommt, fährt verspätet ab; wieder im Kokon drin, kann er wieder nichts tun, dass der Zug schneller fährt. Schliesslich gelangt er zum Flughafen, eilt die Treppe hinauf, erreicht gerade noch den Schalter, die Flügel des Schmetterlings - Verzeihung, des Jumbo Jets, breiten sich aus, es ist alles bereit zum Abflug.

Hier ist ein kritischer Punkt in der Geschichte. Nun, angekommen am Flughafen, steigt ein ganz anderes Gefühl auf: er schämt sich, bewusst oder unbewusst. Er schämt sich seiner Untreue gegenüber dem guten Willen des Schicksals, des Zuges, Gottes. Es ist der kritische Zeitpunkt des Trotzes. Das Aufbegehren soll nun verewigt werden. Das Schicksal, der Zug, Gott sollen büssen dafür, dass sie ihn derart gequält haben in seiner Ungeduld, in seiner Untreue. Alle Flüche nun zurücknehmen? Nie und nimmer. Er steigt nicht in das Flugzeug ein, er geht auf die Toilette, und kein Tropfen entrinnt seiner stolzen Blase. In der Nacht ist sie schon ganz aufgeblasen und droht vor Wut und Hass zu platzen. Er kann nicht einschlafen, trinkt noch einen Kaffee, raucht eine Zigarette nach der anderen: "Das kann doch nicht alles gewesen sein in meinem Leben. Ich kann jetzt noch nicht schlafen gehen, ich muss noch etwas tun. Das Leben schenkt dir nichts, du musst es dir nehmen." Nach einer Flasche Schnaps und drei Frauen schläft er doch erschöpft ein, und ein Traum tritt an ihn heran. In diesem Traum verpasst er das Flugzeug, weil er in seiner Eile über das Puppenhaus eines kleinen Kindes stolpert und sich das Bein bricht. Am nächsten Morgen, nach dem Aufwachen, erinnert sich sein brummender Kopf an das Bild: Das Versprechen des Weges ist gebrochen. Er geht auf die Toilette.

Das Versprechen ist ein Sprechen, das auf den Weg schickt, das Vertrauen und eigenes Sprechen fordert. Es ist ein Versprechen um der Hauptsache willen: der Liebe - und mit der Gefahr des Giftes der Schlange, das mit dem Mekonium ausgeschieden werden muss.

 

 
 

Copyright: Daniel Ambühl  Steintisch Verlag Zürich

 

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