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Verdichtung: Die Skulptur
 

Daniel Ambühl

 

Klammheimlich, während der Beschäftigung mit dem Mekonium und seiner Verdünnung, verdichtete sich eine andere Geschichte: die Skulptur mit dem Namen "Puppenharn". Eine andere Geschichte? Wir werden sehen. Sehen wir uns die Skulptur zuerst einmal an:

Sie ruht auf einem Sockel aus Rosenholz. Der Stamm mit den Trieben, Blättern und Blüten der Rose wurde glatt abgesägt. Auf der Schnittfläche ist eine Bronzeplatte befestigt. Sie erinnert an das Harz der Bäume, das aus der Verletzung quillt und beim Austritt an die Luft erstarrt. Geronnenes Blut verschliesst die Wunde. So werden beim Beschneiden und Veredeln von Pflanzen offene Schnitte an Bäumen, Reb- und Rosenstöcken mit Wachs versiegelt, damit keine Fäulnis entstehen kann und die Pflanze nicht an einer Blutvergiftung eingeht.

Zum bronzenen Pflaster, das die noch frische Amputationswunde bedeckt, gehören zwei Figuren. Ein Huhn ist da zu sehen, das eben ein Körnchen pickt. Hinter ihm steht ein seltsames Zwitterwesen. Sein Unterkörper ist der eines aufrecht gehenden Sauriers. Zweifellos ein Raubtier, mit seinen zwei muskulösen, an Bodybuilder erinnernden Sprungbeinen mit messerscharfen Krallen und den dazu kontrastierenden nutzlosen, dünnen, kurzen Armen. Der Kopf zeigt aber nicht wie erwartet ein gewaltiges Gebiss, sondern ist von einer Marienstatue.

Von Ferne klingen die Gesänge der Sirenen, jener verführerischen Wesen, die ihren Drachenunterkörper hinter den Felsen verbergen, um ahnungslose Seeleute in den Tod zu locken. Ahnungslos hat das Huhn dem Mariasaurier den Rücken zukehrt. Es scheint taub zu sein, senkt naiv und gleichgültig gegenüber der Bedrohung den Kopf, um Nahrung aufzupicken. Für den Mariasaurier scheint das Huhn eine leichte Beute. Noch aber ist von einem Kampf im Ausdruck der Figuren nichts zu sehen. Der Angriff könnte aber jederzeit erfolgen. Was aber hält den Verfolger zurück?

Aus der Mitte der Bronzeplatte ragt ein bleiches Holzstück. Es ist da gleichsam aufgepfropft auf das Rosenholz, aber doch auch von ihm getrennt durch die Bronzeplatte. In groben Zügen erkennt man in diesem Holzstück eine aufrechte, aber eingenickte, in sich versunkene menschliche Figur. Wie eine unvollendete Plastik von Michelangelo schläft das Bild dieses kommenden Menschen noch im hellen, weichen Material. Die Gestalt ist im Holz gefangen, träumt darin von ihrer Befreiung.

Die unvollendete Pieta von Michelangelo ist gewiss sein stärkstes Werk: ein Auftrag für ein Bild der noch unvollendeten Auferstehung ist zwar erteilt, die Idee da, aber das Werk bleibt unvollendet. Verstärkt wird darin der Eindruck der Verpuppung, verstärkt aber auch das Versprechen des Kommenden, der Auferstehung. Unvollendetes Unvollendetsein.

Wie die Pieta ist die obere Figur des "Puppenharns" noch traurig umahnt vom Unfertigen; sie muss sich aus diesen Fesseln der Ängste und Zweifel erst noch befreien. Die Kraft aber für das Vertrauen in die Fertigkeit, die Erlösung, kommt aus dem Wurzelstock der Rose.

Aus dem Nabel der verpuppten Gestalt ragt die Klinge eines Steinbeils. Sie scheint da im Schaft der unvollendeten Pieta befestigt. Schwer und mächtig und in vollendeter Schönheit aus dem Stein gearbeitet, droht die Klinge über den Köpfen der Bronzefiguren. Sie ist in den kleinen Abstand zwischen Huhn und Mariasaurier, letztlich aber auch auf den Einschnitt selbst gerichtet - wie ein Fallbeil. Die Vermutung liegt nahe, dass die Drohung dieses Damoklesschwertes bewirkt, dass der Mariasaurier das Huhn nicht angreift. Ein labiles, und gewagtes Gleichgewicht. Patt droht.

 

Die Skulptur "Puppenharn" erzählt aber auch noch eine andere Geschichte: die der Materialien, aus denen sie besteht.

Die Basis ist Rosenholz. Man ahnt die überschäumende Kraft, die aus der Verborgenheit eines mächtigen Wurzelstockes in den Stumpf gesammelt wird.

Diese Kraft benützt der Rosenzüchter, um dem Trieb einer edlen Rose die notwendigen Naturkräfte zuzuführen. Was hier geschieht, ist ein merkwürdiger Vorgang, die Veredelung genannt wird:

Der Rosenzüchter begegnet in seinem Garten einer kleinen, aber herrlich duftenden und in einzigartiger Pracht blühenden Rose. Er hat eine wunderbare Rose gefunden, und er findet sie schöner als alle anderen. Er reisst nun die anderen Rosenstöcke aus und gibt seiner allesgeliebten Wunderrose den Raum: er planzt ihre Samen in die Erde seines Gartens und wartet voller Vorfreude. Doch zu seiner Enttäuschung wachsen aus diesem Samen seiner Wunderrose dieselben minderwertigen Rosen, die er vorher ausgerissen hatte. Doch keine Wunderrose! Sie ist dem Gärtner nicht treu. Sein Glück der ersten Begegnung mit ihr lässt sich nicht vermehren, und schon im nächsten Winter könnte sie erfrieren.

Der Rosenzüchter hat ein Problem: die schöne Rose ist schwach und unfruchtbar, die gewöhnliche Rose ist stark und fruchtbar; verliebt ist er aber in seine Wunderrose - eine andere bedeutet ihm nichts mehr. Er wünschte sich, dass die Liebe der Wunderrose doch dauern würde - ja, ewig sei. Woher gewinnt er für sie die Kraft, sie zu stärken?

Verliebte handeln gemäss der Liebe, und diese schliesst nichts aus. Plötzlich erinnert er sich der anderen Rosen, die er doch auch geliebt. Er nimmt einen Zweig seiner Wunderrose und bringt ihn zu einem starken Wurzelstock. Liebeszweig auf Erdenkraft, die Dauer schenkt.

Der verliebte Rosenzüchter beschneidet die kräftigste wilde Rose in seinem Garten. Ein klein wenig über dem Boden trennt er ihre oberirdischen Teile vom Wurzelstock. In den Schnitt propft er einen kleinen Trieg seiner Wunderrose, versiegelt die Wunde und hofft, dass sie zusammenwachsen mögen.

 

Das Fundament der Skulptur besteht aus echtem Rosenholz. Dies zu betonen ist deshalb nötig, weil "Rosenholz", das in seiner Textur und Farbe in ausgesuchten Möbeln und kunsthandwerklichen Gegenständen verwendet wird, nicht das Holz der Rose ist, sondern von einem begehrten Tropenbaum des Regenwaldes stammt. Es ist also echtes Rosenholz und ein ungewöhnlich mächtiges Stück einer Rose, die viele Jahre lang neben einem Bauernhaus am Zürichberg wuchs.

Ein Freund von mir wohnte in diesem Bauernhaus, und als ich ihn im Winter 1985 besuchte und er mir den von Schnee bedeckten Garten zeigte, erzählte er mir von den grossen Mühen, die ihn das Ausgraben des Wurzelstockes und das Zersägen des harten Stammholzes gekostet hätten. Die Kraft der Verankerung hätte nicht nachgelassen, auch als die greise Rose schon tot war.

 

Die Bronzeplatte wurde zunächst als Form aus Wachs gearbeitet, welches ich über den Stumpf fliessen liess. Dort bildete der Wachs beim Erkalten und Erstarren eine Schicht, auf der ich die Figuren aufsetzte. Der Guss erfolgte nach dem Prinzip der verlorenen Form. Die wächserne Form wurde mit Gusskanälen versehen und dann in einen feuerfesten Gips eingebettet. Der Gips musste nun ebenfalls abbinden, härten. Im Ofen wurde das Stück danach solange erhitzt, bis alles Wachs durch die Kanäle aus dem Gussgips ausgeflossen, verbrannt und verdampft war. Im Gips blieb nun eine Hohlform zurück, ein Negativ der Wachsfigur. Die an diesem Punkt des Vorgangs verschwundene Wachsfigur, die nur im Abdruck ihrer äusseren Begrenzung noch im Gips anwesend war, wurde nun beim Guss durch flüssige Bronze ersetzt. Dann musste die erkaltete bronzene Figur noch aus dem Gips freigelegt werden. Ist dieser Vorgang nicht schon wieder ein Gleichnis der Verpuppung?

Bronze ist eine Legierung aus Zinn und Kupfer, eine Mischung, eine Veredelung, die einen gewaltigen Umbruch bedeutet. Bronzezeit markiert den Übergang vom Jäger zum Hirten, vom Sammler zum Bauern, vom Nomaden zum Sesshaften, vom Unbewussten zum Bewussten, von natürlicher zu selbstauferlegter Begrenzung.

 

Die Beilklinge stammt aus der Steinzeit, also aus der Zeitepoche, die mit der Bronzezeit zu Ende ging. Es ist eine echtes, steinzeitliches Werkzeug aus Serpentin. Der Zürcher Kantonsarchäologe, der auch begeisterter Taucher ist, schenkte mir die Klinge einst. Er erzählte mir, dass er sie auf dem Grund des Zürcher Obersees gefunden hätte und sie ca. 4000 Jahre alt sei. Ein Mensch hatte sie vielleicht verloren, als er in seinem Einbaum den See überquerte. Die Klinge war vielleicht aus dem Futter des Holzschaftes gefallen, der über den Bootsrand lugte. Vielleicht war aber damals das Seeniveau auch tiefer, und am Ort, wo er die Klinge fand, war eine Siedlung.

 

Das aufgepfropfte Holzstück stammt von einem niedrigen Busch, der auf einer Insel der Malediven wuchs, wo ich einst in den Ferien weilte. Die Figur habe ich damals schon aus dem Ast geschnitzt.

Die Büsche und Triebe sind auf diesen winzigen Inselchen im Indischen Ozean bedroht. Salzwasser schadet ihnen, der sandige Boden gibt kaum Nährstoffe und keinen festen Halt, Süsswasser ist Mangelware und die Strahlkraft der Sonne immens und erst noch verstärkt durch die Spiegelung auf der Wasserfläche des Meeres. Der Busch muss sich auf der winzigen Insel vorkommen wie der Trieb der edlen Rose auf dem wilden Rebstock: einsam, und im Blick auf das umgebende, endlose Meer ohne Alternative, ohne Aussicht auf nährreiche, ausgedehnte Landflächen, von denen er deshalb umso intensiver träumt. Diesen Traum habe ich aus dem Holz geschnitzt in Gestalt eines Menschen. Hierin besteht doch der Mythos der Bildhauerei: der Bildhauer muss nichts in den Stein hauen; er muss nur freilegen, was schon in ihm ist.

Gross muss die Befremdlichkeit des Busches auf dem winzigen Sandhaufen des vom Untergang bedrohten Inselstaates sein. Eine grössere Welle unterspült seine Wurzeln spielend. Wirkt er nicht mit seinen ledrigen Blättern verletzlich, obschon die Inseln der Malediven auf mächtigen Korallentürmen ruhen, die als über tausend Meter hohe Berge aus den Untiefen des Meeres an seine Oberfläche ragen? Wirkt nicht die Figur zerbrechlich und verletzlich, selbst wenn sie auf diesem kraftstrotzenden Fundament des Rosenstrunkes gepfropft ist?

 

 
 

Copyright: Daniel Ambühl  Steintisch Verlag Zürich

 

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