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Sommer 1995: Grenzgänge
 

Daniel Ambühl

 

Eine grosse Hitze brannte in der Stadt. Zwei Monate fiel kein Regen auf Berlin. Heisse, staubige Morgen, wolkenloser Himmel. Brütend von früh bis spät. Die T-Shirts klebten an der schweissnassen Haut. Der Mauerstreifen war versengt, die Gräser früh verdörrt. Nur dichte Büschel der Brennessel ragten wie sattgrüne Flammenbündel in den Himmel, und die wilde Möhre schien unberührt vom Mangel an Wasser. Ihre Pfahlwurzel reichte in tiefe Schichten des sandigen Bodens. Mit saftigen Blättern und kräftigen weissen Doldentellern erzählte sie von ihrem Fund.

Ein Schmetterlingsjahr. Die Gaukler der Wiesen flanierten in grosser Zahl über das Wiesenband zwischen dem Nordbahnhof im Süden und dem Volkspark im Norden. Eine zwei Kilometer lange und fünfzig Meter breite Paradewiese für die sonntäglich gekleideten Distelfalter, Tagpfauenaugen, Bläulinge, Weisslinge und kleinen Füchse. Vom schweren, betörenden Parfum angezogen, bildeten die Falter dichte Schwärme um die drei violetten Sommerfliederbüsche. Ein grosses Gedränge herrschte an diesen Nektar-Imbisstuben im Schatten der geschlossenen Baumreihe, vor welcher einst die Mauer stand. Durch das Spalier der Ahorne drangen die Geräusche des Verkehrs auf der Bernauerstrasse. Vorbeiziehende Trommelwirbel der Räder auf der groben Steinpflasterung. Unbeeindruckt davon war dieser ungenutzte Streifen Land, die Brache, mit ihrem Leben beschäftigt. Ein vielfältige und abwechslungsreiche Wiese war auf dem kargen Boden entstanden. So dankt die Natur für die Zurückhaltung des Menschen mit Gaben ihrer Heilkräuter. Unbeachtet sprudelte dieser stille Reichtum aus dem Einschnitt, der Wunde in den Wohnquartieren der Grosstadt und inmitten der hektischen Baustellen mit ihrem Gespinst von Gerüsten und Bohrtürmen. Die Kräne fuchtelten mit ihren Armen, als wollten sie uns darauf hinweisen, dass die Fundamente für die neue Stadt da im Sand des Schwemmlandes verankert werden sollen und dass dies doch zwecklos sei? Ist es dieser verzweifelte Hinweis, der uns krank macht? Könnte uns die Wiese etwas darüber erzählen?

"Alle Wiesen und Matten, alle Berge und Hügel sind Apotheken." Paracelsus ahnte die verheerenden Auswirkungen des Bildersturmes, der durch die Reformation fegte. Niemand traut heute mehr dem Segen der Wiese in ihrem Reichtum an heilenden Bildern. Hätten die im zerrissenen Berlin Leidenden doch das Johanniskraut auf dem Grenzstreifen wenigstens angeschaut! Die Gänge in die Lagerschuppen der Medizin wären ihnen erspart geblieben.

Wer aber will Heilung als Geschenk? Damit ist über den Ausgang der Vertrauensfrage in der Reformation viel gesagt. Die Bilder wurden nicht mehr als heilig angesehen; darum mussten sie weg. Wenn die Augen das Verborgene nicht mehr ahnen wollen, müssen sie geschlossen werden. So verlor nicht nur die Wiese, sondern auch die Kirche im Umbruch die Kraft der Lebensbilder ihres Glaubens, im tiefen Schnitt zwischen Bild und Wort. Zeichen eines Missverständnisses: die Scheu, selber Bilder der Ewigkeit zu machen, hebt die ahnungsvolle Freude an den uns geschenkten Bildern aus Natur und Wort nicht auf.

An diesen Grenzstreifen, in diese heilende Wunde führten mich meine Füsse auf meinen ausgiebigen Spaziergängen. Eine wohltuende Einsamkeit schützte die Grenzlinie. Eine Müllhalde wurde sie genannt. Verschandeltes Schandmal. Die Passanten trauten sich nicht, in die Augen zu schauen; lieber wollten sie nicht in die Hundehaufen treten. Der Mauerstreifen wurde gemieden. Das bekam ihm gut. Grosses geschieht abseits des Rampenlichts, in dämmrigen, unbeachteten Ställen. Zeugen der Freude dieser Brache waren Hunde, die da ihre Notdurft verrichteten und ihre Herrchen an der Leine zum unnützen Grenzstreifen führten. Selbst der niedrigste Instinkt trägt noch Hoffnung.

Die Herrchen zog es nicht zum Grenzstreifen; ihre Hunde zogen. Der kleine Schritt vom Trotz zum Trost wird leicht verpasst, wenn die Türe verschlossen bleibt, die Blicke nach Innen gehen und der Wiese nicht aufgetan wird, auch wenn sie mit ihrem Reichtum als froher Botschaft anklopft. Vielleicht scheint das Brachland der Vorstellung, die uns weismachen will, dass auf dem Grenzstreifen nichts zu finden sei, begehrenswerter als das prächtige Brachland Wiese selbst. Der Schein mag trügen. Die Sonne nicht.

Azita war im siebten Monat schwanger. Die Glut der Mittagszeit machte ihr zu schaffen. Nur in frühen Morgenstunden oder zur Nachtzeit konnten wir gemeinsam unsere wiesenschaftlichen Streifzüge unternehmen. Ich zeigte ihr den einsamen Strauch des Wermuts, dessen Geruch sie über alles liebte. Ihr Duft liess nicht ahnen von der giftigen Bitternis der Pflanze. Dann führte ich sie zu dem Ort, wo ich tags zuvor in einer Ansammlung wilder Möhren die Raupe des Schwalbenschwanzes entdeckt hatte. Fixpunkt in den Ausflügen war aber ein überaus kräftiger und stolzer Brennesselbusch, der sich von den anderen unterschied durch seine tiefgrüne Farbe. Wie eine Oase sass er in einem Nest dürren Grases am Rand des geteerten Gehwegs. Der Knospe, die in Azitas Bauch heranwuchs, erzählten wir dann gemeinsam von den Raupen des Tagpfauenauges und des Kleinen Fuchses, die hier aus ihren Eiern geschlüpft waren. Dann kehrten wir in unsere Wohnung zurück, die sich keine hundert Meter vom Grenzstreifen entfernt an der Strelitzerstrasse befand, im früheren Osteil der Stadt.

Mein Atelier befand sich da, im Erdgeschoss der Hausnummer 21, genau unter unserer Wohnung. Es glich damals einem Zoogeschäft. Überall standen Holzkästen, die mit Glaswänden versehen und mit Gazetuch abgedeckt waren. In den Gehegen wimmelte es von Raupen, die sich emsig und unersättlich über die angebotenen Brennesselschosse hermachten. Die Malerei war vorübergehend eingestellt. Die Farbtuben und -dosen setzten schon Staub an. Verdutzt schauten sie von den Gestellen: "Was soll das?" "Was hat das Ganze mit uns zu tun?" Zunächst hatte die Zucht der Schmetterlinge aber durchaus noch mit Malerei zu tun. Schon früher hatte ich zuweilen die Raupen des Kleinen Fuchses aufgezogen, ihre Verpuppung, ihr Ausschlüpfen und ihr Davonfliegen beobachtet und dabei festgestellt, dass der frisch geschlüpfte Schmetterling vor seinem Abflug ins neue Leben eine Flüssigkeit ausscheidet, ein einzelner Tropfen nur. Beim Kleinen Fuchs hatte er meist eine tiefrote Farbe, wie von einem schweren Bordeauxwein oder wie dunkles Blut. Blut war es aber nicht, da das Insektenherz eine klare Lymphflüssigkeit durch die Adern pumpt. Der Tropfen war Mekonium, Puppenharn. Der Falter schied darin alles aus, was er als Schmetterling von seinem früheren Raupendasein nicht mehr brauchen konnte. Der Farbstoff, der im Puppenharn enthalten war, stellte sich bei meinen Versuchen als sehr gut lichtbeständig heraus. Und ich dachte, dass es ein schönes Geheimnis sein könnte, einmal mit diesem Puppenharn als Tinte einen Brief zu schreiben oder ein Bild zu malen. Vielleicht schauten die Farbtuben deswegen eifersüchtig in den Raum, der mehr und mehr das Aussehen und den Geruch eines Stalles annahm.

Auch wurde ich zunehmend in die Rolle des Bauern gedrängt. Die Tauben, die ab und an auf dem Fensterbrett vor dem Atelier landeten, werden sich gewundert haben. Der Hunger meiner Raupenkühe war beträchtlich. Zur Sicherung des Nachschubs an frischem Brennessel waren tägliche Erntezüge unerlässlich. In deren Verlauf wurde neue Entdeckungen gemacht, von weiteren Kräutern, weiteren Raupen, neuen, anderen Geschichten. Schliesslich züchtete ich einen Bläuling, zwei Distelfalter, dutzende Raupen des Landkärtchens und C-Falters sowie mehrere Generationen der Raupen des Tagpfauenauges und des Kleinen Fuchses. Ein kleines Büchergestell für die entsprechende Fachliteratur wurde in Eile eröffnet, neue Ordner angeschafft, aber nichts ordentlich darin abgelegt. Mein Stolz aber waren die neun Raupen des Schwalbenschwanzes. Stolz war ihnen angemessen, da sie zu einem grossen gelb-schwarzen Ritterfalter ausschlüpfen würden mit gebogenen Flügelhinterenden, die ihm den Namen geben. Das alles gibt es also in Berlin Mitte.

Die bulligen, rund sieben Zentimeter langen Tiere haben einen bedächtigen Gang, wie von einem Elefanten, die Zeichnung aber eines Tigers: gelbschwarze Streifen auf grünem Grund. Bei Bedrohung können sie aus einer Hautfalte über dem Kopf eine orange, stinkende Nackengabel ausstülpen, die an ein Hirschgehörn erinnert. Die "Rüebliraupe" - wie sie in der Schweiz heisst, weil man sie zuweilen auch auf den gezüchteten Karotten findet - besitzt ein ruhiges Gemüt. Die meiste Zeit über scheint sie zu dösen. Wenn sie aber erwacht, verschwinden im Nu grosse Dolden und Fruchstände der wilden Möhre in ihrem schwarzen Gemüseschredder.

Über die Beobachtungen führte ich detaillierte Aufzeichnungen, wenngleich sie keineswegs wissenschaftlich genannt werden dürften. Es ging nicht um das Messbare, Zählbare, nicht um das Funktionieren, sondern immer um die Gleichnishaftigkeit des Beobachteten. Die Fragen lauteten: "Wofür steht das Bild der Häutung im Menschen, wofür die Suche nach einem Unterschlupf, wofür die Verletzlichkeit in diesem verharrenden Warten; wofür steht das Abstreifen eines alten Kleides und das Erscheinen des Neuen darunter?"

Bei meinen Grenzgängen ging es um die Beschreibungen des Vorgefundenen in seiner Gestalthaftigkeit. Inventar kann man in Apotheken machen. Auf den Wiesen Wiesenschaft. Den Naturschutz brauchte ich nicht zu rufen, damit ein Reservat errichtet würde. Die Natur kennt ihre Wege. Wir beleidigen sie, wenn wir uns anmassen, sie schützen und am Leben erhalten zu müssen. Dann zieht sie sich zurück. Ohne menschliches Zutun ist die Natur in den Grenzstreifen gekommen. Von da vertrieben, wird sie anderswo ihre Nische finden.

In den ersten Augusttagen wurde mein Forschen und Beobachten zunehmend fieberhaft. Es wurde mir immer klarer, dass das Ausschlüpfen der ersten Schmetterlinge just in die Zeit fallen würde, die für die Geburt unseres Kindes berechnet war. Azita war im neunten Monat ihrer Schwangerschaft. Wegen der grossen Hitze konnte sie das Haus kaum mehr verlassen. Unsere Ungeduld, unsere Vorfreuden, Hoffnungen und Sorgen kletterten in die Nähe des Siedepunktes. Der Geburtsvorbereitungskurs war schon absolviert. Ich konnte sehr gut empfinden, was da in den Puppen vorging, die nun zu Dutzenden an den Deckbrettern der Raupengehege hingen.

Dann geschah etwas Schreckliches. In einem Gehege des Kleinen Fuchses hatten sich alle Raupen bereits verpuppt. Nur eine kroch noch müde umher und machte keine Anstalten, sich auch zur Verpuppung zu begeben. Diese Raupe frass mutterseelenalleine weiter an den Brennesselblättern, und sie wurde auch nicht durch die Unruhe erfasst, die auf die Verpuppung hindeutete. Ein Rätsel war diese Einzelgängerin auch deshalb, weil sich Raupen aus gleichem Gelege in fast minutengenauem Rhythmus entwickeln, zur gleichen Stunde sich häuten, und wie auf unhörbares Kommando von ihren Futterpflanzen fliehen, um sich zu verpuppen. Ich nahm deshalb zunächst an, es müsste sich um eine Raupe aus einem anderen Gelege handeln. Selbst dies aber schien mir sehr unsicher, denn die Rhythmen der Übergänge, der Häutungen und Verpuppungen sind auch mit den Raupen anderer Schmetterlinge, anderer Herkunft und anderer Generationen der eigenen Art abgestimmt. Verpuppt sich das Tagpfauenauge da, häuten sich die Kleinen Füchse dort.

Was also war in diese Raupe gefahren, die sich gegen alle Erkenntnisse als Ausnahme gebärdete? Zweite Tage später wurde die Raupe dennoch von der Verpuppungsunruhe erfasst. Sie hetzte aufgeregt, ohne zu fressen, kreuz und quer durchs Gehege auf der Suche nach einem geeigneten Platz zur Verpuppung. Schliesslich fand sie sich dort ein, wo ihre Brüder und Schwestern schon seit geraumer Zeit als Stürzpuppen von der Decke des Geheges hingen. Sie begann - wie alle anderen auch - am Holz der Decke ein kleines Gespinst anzubringen, um sich da mit dem Fuss zu verankern, liess sich aber nicht in Hängeposition fallen. Mit dem letzten Beinpaar im Ankergespinst verharrte sie an der Decke.

Einige Stunden später kam ich wieder in mein Atelier. Die Einzelgängerin war noch immer nicht verpuppt. Aber etwas anderes tat sich da: Zwei Dutzend kleine, weisse Maden duchbohrten die Haut der Raupe und krochen heraus. Gleich neben dem von Innen aufgefressenen, nun mageren und schlaffen Körper der noch lebenden Raupe hüllten sich die Maden in ein schaumartiges Gespinst und verpuppten sich sogleich. Schrecken und Faszination des Horrors. Eine Schlupfwespe hatte Eier in die Raupe gelegt; diese wurde lebendigen Leibes aufgefressen und wartete nun in Agonie auf ihr Ende.

So hatte ich mir die Auflösung des Rätsels nicht gewünscht. Soviel ich auch wusste über die Natur: dies überstieg die Schwelle des Verstehenkönnens und Verstehenwollens. Eine Wut packte mich. Ich nahm die leblose Körperhülle der Raupe mitsamt den Gespinsten der Schlupfwespenmaden und warf sie aus dem Fenster. Noch als die ersten Schmetterlinge heil ausschlüpften, ihren Puppenharn ausschieden, noch als die ersten Kleinen Füchse durch das Fenster aus meinem Atelier ins Freie flogen, war der Schrecken nicht verflogen.

Die Frage, die aus dem Schrecken drängte, hiess: "Was ist ein Gleichnis?" In den Tagen banger Erwartung des Einsetzens von Azitas Wehen war diese Frage nicht ohne Bedeutung. Der Geburtstermin rückte näher. Wofür war das Beobachtete Gleichnis? Die Distanziertheit zwischen mir und dem Beobachteten, die Distanz zwischen mir und dem Gleichnis verschwand. Der Schrecken frass sie auf.

Am 16. August schlüpfte der erste Schmetterling der neuen Generation aus, ein Kleiner Fuchs. Das Gleichnis erzählt nicht von der Realität. Es erzählt von einem verborgenen Geheimnis. Alisha kam am 27. August heil zur Welt.

 

 
 

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